Die Menschen scheinen deutlich verschiedenartiger in ihrer Erscheinung und ihrem Stil als in Korea. Das dürfte nicht nur mein Eindruck sein, jedenfalls sagte mir ein koreanischer Musiker, er beobachte bei sich zuhause eine fortschreitende Vereinheitlichung der Bevölkerung und der Kultur. Tokio ist mit etwa 38 Millionen Einwohnern die mit Abstand grösste Stadt der Welt, was man aber wohl erst nach längerer Zeit dort gefühlsmässig erfassen kann.
Die meisten Touristen in Japan benützen die schnellen, gut ausgebauten, teuren öffentlichen Verkehrsmittel. Ich denke aber, dass man per Auto oder Hitchhiken deutlich mehr vom Land zu sehen kriegt, freier ist, es einfacher ist vom Touristenpfad abzuweichen. Nachdem mein Führerschein auf japanisch übersetzt war, machte ich mich deshalb auf die Suche nach einem Mietauto, welches ich dank der Hilfe der enorm liebenswürdigen Hostelbesitzer Isa und Yumiko auf einer rein japanischen Webseite eines kleinen lokalen Vermieters schliesslich zur Hälfte ($500/Monat) der übrigen Preise fand. Klein, wenig Kraft, hässliche Farbe, aber braucht nur wenig Benzin und fährt bis jetzt, meistens. Weitere Schlaglöcher für einen Roadtrip in Japan sind die exorbitanten Mautgebühren auf den Autobahnen (Tokio-Fukuoka ca. $230), teure Verkehrsbussen, japanische Schilderwälder und Ampelgärten, enge Strassen, und in den Städten fehlende Gratisparkplätze und häufiger Stau. Und doch bereue ich die Entscheidung bis jetzt kein bisschen. Da ich mir die Autobahn nicht leisten will, werde ich vom Smartphone-Navi ständig auf kleine Strassen (die alle ein Geschwindigkeitslimit von 30-50km/h haben), durch kleine Käffer und über Berge umgeleitet.
Von Tokio fuhr ich in die japanischen Alpen und nach Nikko, im Gedanken dass der Winter nicht weniger wird. Der ständige Regen wich auf etwa 1700m dem Schnee, und ich konnte die farbigen Bäume im trüben Wetter nur erahnen. Nagano übt auf mich mehr als jeder andere Ortsname in Japan eine Anziehungskraft aus, möglicherweise aufgrund der olympischen Winterspiele von 1998, und liess mich auch nach acht Stunden Autofahrt mit 30km/h Durchschnitt darauf beharren, dort zu übernachten. Als sie mir im Hostel sagten, es hätte noch andere Schweizer, hielt sich die Begeisterung in Grenzen, schliesslich kann man ja Schweizern in der Schweiz begegnen. Trotzdem fragte ich am Abend bei Wiedereintritt in die Runde, wer nun Schweizer sei, was mit blanken Blicken und dann auf französisch mit dem Kommentar "Ah, il parle allemand!" gewürdigt wurde - so ein arroganter Deutschschweizer, denkt alle Schweizer sprechen Schweizerdeutsch. Die Schweizer stellten sich als die Langzeitreisenden Aline und Özlem aus dem Wallis heraus (https://waaaildminds.wordpress.com/), die mit dem Franzosen Jean-Baptiste ("Schibé") in die gleiche Sozialarbeiter-Schule gegangen waren, und alle arbeiteten sie auf Hokkaido mit dem Franzosen Clément im gleichen WWOOFing (Ökotourismus, Arbeit für Kost und Logie) Projekt. Die vier waren mir sofort sympathisch, was sich in einer späten Nacht in einem ausser uns komplett leeren Dachstock-Café nur festigte.
Am nächsten Morgen fuhren wir zusammen zu den "Snow Monkeys", welche als einzige Affen der Welt in einer heissen Quelle baden. Was sie dann aber doch nicht taten, weil es noch nicht kalt genug war dafür. Trotzdem haben die Affen den Menschen gegenüber eine Zen-Mentalität, die man am besten versteht, wenn man es ihnen in einem der traditionellen japanischen Bäder für Menschen (Onsen) gleichtut. Obwohl der Platz in meinem kleinen Auto für fünf Leute plus Rucksäcke nun wirklich kaum ausreicht, verbrachten wir die nächsten paar Tage gemeinsam unterwegs, fanden im Regen und Glücksmoment den unglaublichst farbigen Wald (die Bilder werden dem Ort in keiner Weise gerecht), in Kamikochi eine schöne Berg- und Sumpflandschaft, in Takayama eine unzerstörte sympathische Stadt, und in Nagoya eine Grossstadt mit für einmal in der Tat beeindruckendem Schloss.
Die vier (oder zumindest die zwei Girls) bevorzugen gratis Alternativen der Übernachtung. Als sie in Matsumoto keinen Couchsurfing-Platz fanden und die Karaokebar auch noch etwas zu teuer schien, fertigten sie um Mitternacht kurzerhand ein Kartonschild, welches auf japanisch nach einem Schlafplatz bittet, was auch funktionierte. Es ist interessant zu sehen, dass man dieses Land auch billiger bereisen kann, auf eine Weise, die ständig Kontakt zu den Besten der Japaner herstellt. Trotzdem ist mir meine Weise lieber, denn auch wenn Aline und Özlem so schlussendlich länger reisen können, verbringen sie wiederholt viel zu viel Zeit damit, die Übernachtung zu finden, und verlieren die Zeit wohl gleich wieder, in Convenience Stores wie 7-Eleven (die sind aber auch tatsächlich extrem praktisch und qualitativ hochstehend, ersetzen Supermarkt, Internet-Café, Bank, Toilette, ...). Zudem dürfte es schwerlich zu verhindern sein, dass man bei einer Gratisübernachtung oder beim Couchsurfing vom Gastgeber teilweise stark unter die Fittiche genommen wird, was wohl ebenso schön wie freiheitsberaubend ist. Wirklich inspirierend sind die vier auf eine andere Weise: In ihrer lebendigen, sorglosen, fröhlichen, ausgelassenen und trotzdem einfühlsamen und intelligenten Art, in einem Zusammensein in dem kaum je Spannungen vorhanden sind weil sie sofort ausgesprochen werden und sich in Heiterkeit verflüchtigen. Glückliche Menschen, mit dem Herz am rechten Fleck, die andere Menschen um sich herum glücklich machen. Eine wahre Freude ihnen begegnet zu sein. Nach einer Woche gemeinsamem Herumreisen haben sich unsere Wege getrennt, ich will noch weiter südwärts fahren können, bevor ich das Auto zurück nach Tokio bringen muss. Da ich ihnen meinen Schlafsack und Matte für eine anstehende Wanderung ausgeliehen habe, sehen wir uns aber wieder.
Japaner haben zwei Gesichter. Das öffentliche, Tatemae ("Maskerade"), ist was die Gesellschaft erwartet (oder erfordert, je nach Blickwinkel), also Freundlichkeit, Höflichkeit und Hilfsbereitschaft, Verhindern von Konflikten. Das private, Honne ("Wahrer Ton"), sind die tatsächlichen Gefühle und Wünsche einer Person, welche nicht öffentlich gezeigt werden, wenn sie nicht mit Tatemae übereinstimmen. Es braucht nur wenig Fantasie, um den Rattenschwanz an Problemen zu sehen, der diesem Konzept folgt. Lügen sind toleriert, sofern sie das öffentliche Gesicht wahren. Da Lügen toleriert sind, kann man in etwas komplexeren Situationen nicht davon ausgehen, dass jemand die Wahrheit sagt. Die wahren Gefühle werden nicht thematisiert, nicht verarbeitet. Jemand, der stark zwischen der Diskrepanz von Honne und Tatemae leidet, darf dies nicht zeigen, leidet noch stärker darunter, die Diskrepanz vergrössert sich, ein Teufelskreis. Ein verwandtes Symptom dieser (aus meiner westlichen Sicht) dysfunktionalen Ideologie sind die Hikikomori ("Gesellschaftlicher Rückzug"), Menschen die sich für lange Zeit (nach Definition mehr als 6 Monate) aus der Gesellschaft zurückziehen und in ihrem Zimmer (meistens bei den Eltern wohnend) einschliessen, jeden Kontakt scheuen. Während dieses Krankheitsbild ganz bestimmt nicht scharf ist und man es auch in anderen Ländern vorkommt, ist es in Japan mit schätzungsweise einer Million Fälle ein flächendeckendes Problem. Posttraumatische Belastungsstörungen werden schon bei uns nicht ausreichend thematisiert, in Japan sind psychische Erkrankungen wie Depression oder Angststörungen viel stärker stigmatisiert, und werden als Scheitern wahrgenommen. Von der Gesellschaft ausgestossen, selbst zurückgezogen, gleicher Unterschied.
Und nun stellt euch meine Überraschung vor, als mich ein gar nicht höflicher Japaner nicht nur anschreit, sondern ich mich auch noch in einem Handgemenge mit ihm wiederfinde. In Matsumoto hat es gleich neben meinem Hostel einen grossflächigen Parkplatz, welcher der Stadt gehört und der mit $3 pro Tag extrem billig ist. Also frage ich beim Parkwächter nach, ob dies so stimmt. Ja, stimmt so. Ich hole mein Auto, will einbiegen, er winkt ab. Macht ein Kreuz mit seinen Armen (machen sie in Asien alle, wenn etwas geschlossen oder kaputt ist), zeigt in die andere Richtung, schickt mich weg. Na gut, vielleicht hat es dort drüben auch einen Eingang zum Parkplatz. Ich fahre einmal rum, finde bloss viel teurere Parkplätze, fahre zurück. Ja wo denn nun genau? Winkt mich immer noch weg. Ich stelle das Auto an den Rand, versuche zu kommunizieren, er bleibt abweisend. Ich zerre den Hostel-Typen aus dem Hostel raus, kann zwar auch kaum Englisch, trotzdem mal übersetzen bitte. Hier geht nicht, morgen ist Wahlsonntag. Ich zeige auf die parkierten und ausfahrenden Autos, mir scheint hier geht es für alle ausser mich. Hier dürften nur lizenzierte Autos rein, und dort drüben hat es einen Parkplatz für den gleichen Preis. Wo? Dort drüben. Ich zerre den Hostel-Typen in mein Auto, zeigen bitte. Einmal rumgefahren, nichts gefunden, ja ok, der Parkwächter hat gelogen. Also stellen wir ihn zur Rede? Rumgestammere. Ich verstehe - das geht nicht, weil wäre ein Konflikt. Mir platzt langsam der Kragen, aber gleichzeitig tut mir der Hostel-Typ auch leid, es ist ihm ins Gesicht geschrieben, wie unwohl er sich fühlt. Kennst du einen anderen Parkplatz? Weiss nichts, von gar nichts, ehrlich. Ich lasse ihn laufen. Suche weit weg vergeblich nach einem Parkplatz, der bezahlbar ist. Stelle ihn auf einen nahen, unbezahlbaren, $1 pro 20min. Treffe mich mit den Anderen. Gehe zurück, unterhalte mich mit Leuten im Hostel, einer ist Japaner und hat sein Auto auf dem ominösen Parkplatz. Was, wegen Wahlsonntag? Nein, kein Problem beim Hinstellen. Reden gehen mit dem Parkwächter? Das dann doch lieber nicht. Der Hostel-Typ meint, eigentlich parkieren immer alle da. Er sei ausserdem unbewacht über die Nacht. Ich bezahle das fällige Lösegeld, parkiere da über Nacht. Fahre früh weg, noch kein Wächter, aber japanischer Warnfötzel auf der Scheibe. Komme zurück und parkiere am Rand vor dem Hostel. Sprint des Parkwächters. 600 yen! Gestern 300 Yen! Heute 300 Yen! Lass mich nächstes Mal rein, dann bezahle ich auch. Will wegfahren, er wird handgreiflich, will mich davon abhalten. Ist eineinhalb Köpfe kürzer, 15 Jahre älter, Japaner, nicht ganz bei Trost, trägt Brille... den kann ich nicht hauen. Steige ein, schliesse Tür, er öffnet sie. Ich schliesse Tür, schliesse ab. Er haut wiederholt gegen die Scheibe mit der Faust. Ich lasse das Fenster runter. Freund, so kriegen wir Probleme miteinander. Er schreit inzwischen. No! No! No! 600 Yen! Police! No! Seine zwei Parkwächterfreunde stehen vor und neben dem Auto, machen nichts und wollen woanders sein. Ich fahre weg, unter Fenstergehaue und Drohgebärden. Halte an einer roten Ampel, überlege. Sie haben mein Nummernschild. Wer kriegt recht? Eher nicht der Ausländer, der kaum japanisch spricht. Sind sechs Stutz. Fahre zurück, sage ihm die Meinung auf Berndeutsch, bezahle brav, und mache mir fortan keine Sorgen wenn ich eine Polizeistreife sehe.
Sonst halten bisher aber alle an Tatemae fest, überaus freundlich und höflich. Letztes Erlebnis war, wie mich zwei japanische Damen zum Essen mitnahmen, ich bin mir sicher, das war echte Freundlichkeit und Neugier. Oder? Wie weit geht Tatemae, was erfordert es von ihnen, und was kommt freiwillig? Kann ich es intuitiv unterscheiden, weiss ich, was nicht nur Tatemae ist, sondern auch Honne? Spielt es am Ende eine Rolle? Ist das Wahren von Tatemae auch ein wahres Gefühl, und sollte also nicht als verlogen angesehen werden? Sind wir so anders? Konflikten aus dem Weg zu gehen ist auch bei uns weitverbreitete Praktik. Wäre schön, auf diese Fragen eine Antwort zu finden, bevor ich Japan verlasse.
Mit dem Roadtrip ist auch die Musik in meine Reise zurückgekehrt, und ich habe ein paar der prägenden Tracks im Player unten an der Seite hinzugefügt.