Ich konnte zu meiner Freude mehr Zeit mit Shiho verbringen, da ihr einwöchiger Trip nahe an meiner Route lag. Sie ist Hostelbesitzerin, harte Nuss, schlaue Freidenkerin, Zuspätkommerin, Alien (laut ihrem Vater), Tochter von Aliens (laut ihr), Smartphoneaussteigerin, und hat mir enorm viel zur japanischen Sprache und Kultur beigebracht. Obwohl ich immer noch nicht weiss, ob sie mich veräppelt hat, als sie mir beibringen wollte, eine Ecke des Essstäbchen-Papiers umzufalten am Ende der Mahlzeit.
Ausserdem hat es endlich doch noch geklappt, meinen Freund Yusuke wiederzusehen, den ich 2013 in den USA getroffen habe. Er war damals 21, schon in 39 Ländern gewesen ohne es seinen Eltern zu sagen, hatte den Film "Into The Wild" über 300mal geschaut und wollte in der Wildnis von Alaska hiken gehen. Das hat er inzwischen getan, in einem kalten März, und hätte es mangels Ausrüstung und Vorbereitung dabei seinem Vorbild Christopher McCandless um ein Haar auch in Sachen Tod gleichgetan. Doch er besitzt noch alle Zehen, und hat gemäss eigener Aussage die letzten 4 Jahre geschuftet wie ein Hund, 6 Tage pro Woche, 12 Stunden pro Tag, ohne wirklichen Unterbruch, um auf einen beeindruckenden Kontostand zu kommen, den er zu einem Teil für seinen im nächsten Jahr beginnenden zweijährigen Trip um die Welt verwenden wird (wohin weiss er nicht, nur dass er kein Flugzeug nimmt, autostoppt und im Zelt und auf Couches übernachtet). Sonntags gehen er und seine Verlobte Miku immer in den gleichen Park am Meer, und starren hinaus "Richtung Brasilien". Sie werden heiraten und dann zusammen zu diesem Abenteuer aufbrechen, von dem sie jetzt nicht sprechen, weil sie dann nicht mehr arbeiten könnten. Wenn er zurück ist, will er die Firma seines Vaters (mit dem er Zeit seines Lebens drei Stunden gesprochen hat) übernehmen, sie verkaufen, sich ein anderes Geschäft aufbauen, für das er nicht viel arbeiten muss, und mit dem er nicht viel Geld verdient. Denn er brauche nicht viel. Ich glaube er war der erste, der in mir eine Faszination für die Verschiedenartigkeit der japanischen Kultur geweckt hat, obwohl er selbst kaum Teil davon ist. Umso spannender, ihm wieder zu begegnen, nach dem Trip und nicht zu Beginn, wie wir ursprünglich geplannt hatten.
Und dann ging es einmal mehr so auf, dass Schibé am gleichen Ort landet, er musste aber auch seinen Hut einsammeln, den er im Auto vergessen hatte. Er ist 43 und beginnt gerade ein komplett neues Lebenskapitel, in dem er zwischen dem Reisen gerne irgendwo bleiben würde (Japan ist hoch oben auf der Wunschliste), möglicherweise als Französischlehrer. Lebemann, Ulknudel, Intellektueller. Wir zwei und Clément fliegen alle morgen aus Tokyo ab, in unterschiedliche Richtungen. Clément blieb aber noch einen Tag länger beim paradiesischen Wildzelten auf der südlichen Insel Yukushima und wird den Flughafen nicht verlassen, so dass ich ihm wohl nicht mehr begegne, dieses Mal.
Schliesslich zur japanischen Lebenskultur, zu den zwei Gesichtern, Tatemae und Honne, und den Hikikomori (s. drei Einträge zuvor). Ich habe diese Themen unterwegs bei jeder Gelegenheit angesprochen, das war eine einzige faszinierende Reise innerhalb der Reise. Auch wenn das jetzt möglicherweise etwas zu lang wird, ein paar meiner momentanen Ansichten daraus.
Das Unterscheiden davon, ob eine Person echt freundlich oder nur freundlich professionell ist, funktioniert genau gleich wie überall sonst: Wenn das Lächeln die Augen erreicht, ist es Ersteres.
Der Unterschied zwischen unserer und der japanischen Kultur kann am ersten durch den Gegensatz Individualismus/Kollektivismus auf den Punkt gebracht werden. Der Individualist kümmert sich zuerst um sein eigenes Wohlbefinden und denkt, dass eine Gesellschaft dann gut funktioniert, wenn sie aus glücklichen Individuen besteht (oder sie ist ihm egal). Der Kollektivist kümmert sich in erster Linie um die Gesellschaft und denkt, dass eine gut funktionierende Gesellschaft seine Individuen glücklich macht (oder sie sind ihm egal). Japaner sind bereit, ihre persönlichen Gefühle der grösseren Ordnung (Harmonie, Balance) unterzuordnen. Wie alles hat dies positive und negative Auswirkungen.
Die positiven: Der allgegenwärtige Respekt und die Höflichkeit, die Umgangsformen, so bestimmend und identitätsstiftend für Japan, sind eine Wohltat. Für mich zeigt das kurze Verneigen nicht nur Respekt, es erzeugt ihn auch. Da das Kollektiv wichtiger ist, sind auch kleine Beiträge dazu wertvoll und der Eigenwert ist nicht so stark vom persönlichen beruflichen Erfolg abhängig. Es ist auffallend, wie viele "schlechte" Jobs es in Japan gibt, eine unheimliche Anzahl von Leuten, die sich auf Baustellen, Parkplätzen, in Einkaufsmeilen die Beine in den Bauch stehen, und den ganzen Tag mit einer Fahne wedeln, die gleiche Handbewegung wiederholen, sie ignorierende Leute versuchen anzusprechen. Doch kaum je spürt man dabei eine Unzufriedenheit. Das steht nur im scheinbaren Widerspruch zum enorm angestrengten Einsatz in Schule und bei der Arbeit: Das Resultat ist weniger wichtig, als den bestmöglichen Effort abzuliefern (一生懸命頑張る: try your hardest). Auch die tiefe Verbrechensquote lässt sich hierin begründen. Wenn es weniger Leute gibt, die ihre Situation als ungerecht und unbefriedigend erachten, werden weniger Leute zu illegalen Mitteln greifen, um sie zu verändern.
Die negativen Seiten liegen für uns auf der Hand: Geringere persönliche Freiheit, unausgesprochene und unverarbeitete Probleme, stärkerer Druck und Normen aus der Gesellschaft. Viele Leute, die daran zerschellen, sich schamvoll zurückziehen oder ausgegrenzt werden. Ca 95% der Japaner, die ich fragte, gaben an einen Menschen zu kennen der Hikikomori ist/war. Psychische Schwierigkeiten zu haben oder arbeitslos zu sein sind noch einmal deutlich stärker stigmatisiert als bei uns, weil von der Norm abweichend, was zu einem Teufelskreis führt.
Beidseits gibt es meines Erachtens klare Fehlvorstellungen. Viele Japaner setzen Individualismus mit Egoismus gleich, und verkennen damit, dass man auch aus freien Stücken entscheiden kann, hilfsbereit und gesellschaftsdienlich zu sein. Währenddessen ist es komplett falsch zu vermuten, dass Japaner bloss ernst und deprimiert durch's Leben gehen, sie engstirnig oder wie Roboter sind. Tatsächlich wird auf der Strasse wenig laut gelacht, aber das ist bloss der (verfehlten) Idee geschuldet, dass andere Leute nicht damit belästigt werden sollen. Es gibt viele Japaner mit äusserst sonnigen Gemütern, die genau so gerne lachen wie wir, auch wenn sie im Schnitt wohl introvertierter sind. Und zumindest die Japaner, die ich etwas näher kennengelernt habe sind fast durchgehend enorm neugierig und offen für neue Ideen. Mit diesen Themen konfrontiert entwickeln sie innerhalb vom Gespräch neue Theorien und sind absolut fähig, das System zu hinterfragen.
Etwas, das die junge Generation aktiv tut, sind sich alle einig. Es liegt deshalb nahe, dass die japanische Kultur bald Änderungen zu verkraften haben wird. Der ausländische Einfluss wird ständig grösser, neben einer sowieso globalisierten Welt sprechen immer mehr Japaner gutes Englisch und treten in Kontakt mit dem Ausland. Ausländische Besucher in Japan nehmen rasant zu, es sind heute etwa 4mal (!) so viele wie noch vor 6 Jahren. Es sind Bestrebungen im Gange, Austauschjahre zu fördern. Ich habe mit mehreren AustauschstudentInnen gesprochen, und sie meinten alle, das Ausland (USA oder Kanada) hätte sie stark geprägt, sie kämen zurück und teilten viel unverblümter ihre Meinung mit, seien insgesamt expressiver, ecken vielerorts an, und gewöhnen sich dann langsam wieder ein. Gefragt danach, welche Art ihnen besser gefällt, antworten sie alle ohne zu zögern, es sei die Westliche. Das scheint mir ein ziemlich handfester Hinweis, dass kaum eine individuelle Resistenz vorhanden ist. Während dieser Prozess kaum aufzuhalten ist, wird die Welt dadurch ein Stück kleiner, gleichartiger, weniger faszinierend zu bereisen, und ich hoffe es bleiben noch lange grosse Unterschiede bestehen.
Ein paar japanische Eigenartigkeiten:
- Japanische Restaurants haben kaum je Servietten. Kluge, unordentlich essende Ausländer tragen eigene herum. Sage ich mir jedes Mal, wenn ich wieder keine habe.
- Japanische Restaurants haben so kleine Portionen, dass ich am ersten Tag drei Mal Abendessen bestellen musste, um satt zu werden. Ausserhalb von Tokio ist das etwas weniger schlimm, und wenn man wirklich Hunger hat, haben viele indische Restaurants gratis zusätzliches Naan und Reis.
- Japaner verstehen nicht, wieso ein Tourist indisch essen geht, wenn er in Japan ist. Besser man sagt es niemandem.
- Japaner bekommen von ihren Eltern tatsächlich beigebracht, die Reisschale bis auf das letzte Korn zu leeren. Andere Speisen sind da weniger entscheidend. Ausländer geniessen aber Amnestie.
- Japanische öffentliche Plätze haben gründsätzlich keine Mülleimer. Als Anti-Terror Massnahme (Saringas-Attacke 1995), und weil es funktioniert. Convenience Stores springen auch hierbei in die Bresche.
- Japanische Toiletten haben fast alle eine Sitzheizung und ein eingebautes Bidet, manche öffnen und schliessen den Deckel automatisch. Scary.
- Japaner haben eine Vielzahl von Lauten, um Verständnis, Erstaunen, Beipflichten, Interesse und vieles mehr ohne wirkliche Worte auszudrücken. Zweien Meistern dieser Kommunikation zuzuhören ist ein Vergnügen, die Rollen von Lautmaler und Wortführer werden ständig getauscht aber beide sprechen fast durchgehend. Wie ein Tanz, ein Duett.
- Japaner tragen oft Gesichtsmasken. Gegen Krankheit, gegen Schadstoffe. Und ziemlich sicher gegen Schüchternheit.
- Japaner haben sich inzwischen daran gewöhnt, dass Touristen ein paar Brocken Japanisch sprechen und mit Stäbchen essen können. Wer Reaktionen hervorrufen will, sollte möglichst viel Slang lernen. ちょお寒い (Choosamui)! Damn cold!