Dienstag, 28. November 2017

Closed Circles

Es haben sich wieder einmal viele Kreise geschlossen. Mein ursprünglich erstes Ziel in Japan ausserhalb Tokios, Mount Fuji, markant und sagenumwoben und von weitem attraktiver als von nahe, war schlussendlich das letzte. Ein paar Bilder bei Eastern Honshu hinzugefügt. Der wundervolle, freuderfüllte, 37-tägige, 4500km lange Kreis mit dem Auto natürlich. Zurückgegeben war dieses schnell, keine Beanstandungen oder zusätzliche Kosten, trotz überschrittener Maximalkilometern und vorgezeigter Delle von einem fliegenden Kiesel, der die Windschutzscheibe um einen Zentimeter verfehlt hat.

Ich konnte zu meiner Freude mehr Zeit mit Shiho verbringen, da ihr einwöchiger Trip nahe an meiner Route lag. Sie ist Hostelbesitzerin, harte Nuss, schlaue Freidenkerin, Zuspätkommerin, Alien (laut ihrem Vater), Tochter von Aliens (laut ihr), Smartphoneaussteigerin, und hat mir enorm viel zur japanischen Sprache und Kultur beigebracht. Obwohl ich immer noch nicht weiss, ob sie mich veräppelt hat, als sie mir beibringen wollte, eine Ecke des Essstäbchen-Papiers umzufalten am Ende der Mahlzeit.

Ausserdem hat es endlich doch noch geklappt, meinen Freund Yusuke wiederzusehen, den ich 2013 in den USA getroffen habe. Er war damals 21, schon in 39 Ländern gewesen ohne es seinen Eltern zu sagen, hatte den Film "Into The Wild" über 300mal geschaut und wollte in der Wildnis von Alaska hiken gehen. Das hat er inzwischen getan, in einem kalten März, und hätte es mangels Ausrüstung und Vorbereitung dabei seinem Vorbild Christopher McCandless um ein Haar auch in Sachen Tod gleichgetan. Doch er besitzt noch alle Zehen, und hat gemäss eigener Aussage die letzten 4 Jahre geschuftet wie ein Hund, 6 Tage pro Woche, 12 Stunden pro Tag, ohne wirklichen Unterbruch, um auf einen beeindruckenden Kontostand zu kommen, den er zu einem Teil für seinen im nächsten Jahr beginnenden zweijährigen Trip um die Welt verwenden wird (wohin weiss er nicht, nur dass er kein Flugzeug nimmt, autostoppt und im Zelt und auf Couches übernachtet). Sonntags gehen er und seine Verlobte Miku immer in den gleichen Park am Meer, und starren hinaus "Richtung Brasilien". Sie werden heiraten und dann zusammen zu diesem Abenteuer aufbrechen, von dem sie jetzt nicht sprechen, weil sie dann nicht mehr arbeiten könnten. Wenn er zurück ist, will er die Firma seines Vaters (mit dem er Zeit seines Lebens drei Stunden gesprochen hat) übernehmen, sie verkaufen, sich ein anderes Geschäft aufbauen, für das er nicht viel arbeiten muss, und mit dem er nicht viel Geld verdient. Denn er brauche nicht viel. Ich glaube er war der erste, der in mir eine Faszination für die Verschiedenartigkeit der japanischen Kultur geweckt hat, obwohl er selbst kaum Teil davon ist. Umso spannender, ihm wieder zu begegnen, nach dem Trip und nicht zu Beginn, wie wir ursprünglich geplannt hatten.

Und dann ging es einmal mehr so auf, dass Schibé am gleichen Ort landet, er musste aber auch seinen Hut einsammeln, den er im Auto vergessen hatte. Er ist 43 und beginnt gerade ein komplett neues Lebenskapitel, in dem er zwischen dem Reisen gerne irgendwo bleiben würde (Japan ist hoch oben auf der Wunschliste), möglicherweise als Französischlehrer. Lebemann, Ulknudel, Intellektueller. Wir zwei und Clément fliegen alle morgen aus Tokyo ab, in unterschiedliche Richtungen. Clément blieb aber noch einen Tag länger beim paradiesischen Wildzelten auf der südlichen Insel Yukushima und wird den Flughafen nicht verlassen, so dass ich ihm wohl nicht mehr begegne, dieses Mal.

Schliesslich zur japanischen Lebenskultur, zu den zwei Gesichtern, Tatemae und Honne, und den Hikikomori (s. drei Einträge zuvor). Ich habe diese Themen unterwegs bei jeder Gelegenheit angesprochen, das war eine einzige faszinierende Reise innerhalb der Reise. Auch wenn das jetzt möglicherweise etwas zu lang wird, ein paar meiner momentanen Ansichten daraus.

Das Unterscheiden davon, ob eine Person echt freundlich oder nur freundlich professionell ist, funktioniert genau gleich wie überall sonst: Wenn das Lächeln die Augen erreicht, ist es Ersteres.

Der Unterschied zwischen unserer und der japanischen Kultur kann am ersten durch den Gegensatz Individualismus/Kollektivismus auf den Punkt gebracht werden. Der Individualist kümmert sich zuerst um sein eigenes Wohlbefinden und denkt, dass eine Gesellschaft dann gut funktioniert, wenn sie aus glücklichen Individuen besteht (oder sie ist ihm egal). Der Kollektivist kümmert sich in erster Linie um die Gesellschaft und denkt, dass eine gut funktionierende Gesellschaft seine Individuen glücklich macht (oder sie sind ihm egal). Japaner sind bereit, ihre persönlichen Gefühle der grösseren Ordnung (Harmonie, Balance) unterzuordnen. Wie alles hat dies positive und negative Auswirkungen.

Die positiven: Der allgegenwärtige Respekt und die Höflichkeit, die Umgangsformen, so bestimmend und identitätsstiftend für Japan, sind eine Wohltat. Für mich zeigt das kurze Verneigen nicht nur Respekt, es erzeugt ihn auch. Da das Kollektiv wichtiger ist, sind auch kleine Beiträge dazu wertvoll und der Eigenwert ist nicht so stark vom persönlichen beruflichen Erfolg abhängig. Es ist auffallend, wie viele "schlechte" Jobs es in Japan gibt, eine unheimliche Anzahl von Leuten, die sich auf Baustellen, Parkplätzen, in Einkaufsmeilen die Beine in den Bauch stehen, und den ganzen Tag mit einer Fahne wedeln, die gleiche Handbewegung wiederholen, sie ignorierende Leute versuchen anzusprechen. Doch kaum je spürt man dabei eine Unzufriedenheit. Das steht nur im scheinbaren Widerspruch zum enorm angestrengten Einsatz in Schule und bei der Arbeit: Das Resultat ist weniger wichtig, als den bestmöglichen Effort abzuliefern (一生懸命頑張る: try your hardest). Auch die tiefe Verbrechensquote lässt sich hierin begründen. Wenn es weniger Leute gibt, die ihre Situation als ungerecht und unbefriedigend erachten, werden weniger Leute zu illegalen Mitteln greifen, um sie zu verändern.

Die negativen Seiten liegen für uns auf der Hand: Geringere persönliche Freiheit, unausgesprochene und unverarbeitete Probleme, stärkerer Druck und Normen aus der Gesellschaft. Viele Leute, die daran zerschellen, sich schamvoll zurückziehen oder ausgegrenzt werden. Ca 95% der Japaner, die ich fragte, gaben an einen Menschen zu kennen der Hikikomori ist/war. Psychische Schwierigkeiten zu haben oder arbeitslos zu sein sind noch einmal deutlich stärker stigmatisiert als bei uns, weil von der Norm abweichend, was zu einem Teufelskreis führt.

Beidseits gibt es meines Erachtens klare Fehlvorstellungen. Viele Japaner setzen Individualismus mit Egoismus gleich, und verkennen damit, dass man auch aus freien Stücken entscheiden kann, hilfsbereit und gesellschaftsdienlich zu sein. Währenddessen ist es komplett falsch zu vermuten, dass Japaner bloss ernst und deprimiert durch's Leben gehen, sie engstirnig oder wie Roboter sind. Tatsächlich wird auf der Strasse wenig laut gelacht, aber das ist bloss der (verfehlten) Idee geschuldet, dass andere Leute nicht damit belästigt werden sollen. Es gibt viele Japaner mit äusserst sonnigen Gemütern, die genau so gerne lachen wie wir, auch wenn sie im Schnitt wohl introvertierter sind. Und zumindest die Japaner, die ich etwas näher kennengelernt habe sind fast durchgehend enorm neugierig und offen für neue Ideen. Mit diesen Themen konfrontiert entwickeln sie innerhalb vom Gespräch neue Theorien und sind absolut fähig, das System zu hinterfragen.

Etwas, das die junge Generation aktiv tut, sind sich alle einig. Es liegt deshalb nahe, dass die japanische Kultur bald Änderungen zu verkraften haben wird. Der ausländische Einfluss wird ständig grösser, neben einer sowieso globalisierten Welt sprechen immer mehr Japaner gutes Englisch und treten in Kontakt mit dem Ausland. Ausländische Besucher in Japan nehmen rasant zu, es sind heute etwa 4mal (!) so viele wie noch vor 6 Jahren. Es sind Bestrebungen im Gange, Austauschjahre zu fördern. Ich habe mit mehreren AustauschstudentInnen gesprochen, und sie meinten alle, das Ausland (USA oder Kanada) hätte sie stark geprägt, sie kämen zurück und teilten viel unverblümter ihre Meinung mit, seien insgesamt expressiver, ecken vielerorts an, und gewöhnen sich dann langsam wieder ein. Gefragt danach, welche Art ihnen besser gefällt, antworten sie alle ohne zu zögern, es sei die Westliche. Das scheint mir ein ziemlich handfester Hinweis, dass kaum eine individuelle Resistenz vorhanden ist. Während dieser Prozess kaum aufzuhalten ist, wird die Welt dadurch ein Stück kleiner, gleichartiger, weniger faszinierend zu bereisen, und ich hoffe es bleiben noch lange grosse Unterschiede bestehen.

Ein paar japanische Eigenartigkeiten:
  • Japanische Restaurants haben kaum je Servietten. Kluge, unordentlich essende Ausländer tragen eigene herum. Sage ich mir jedes Mal, wenn ich wieder keine habe.
  • Japanische Restaurants haben so kleine Portionen, dass ich am ersten Tag drei Mal Abendessen bestellen musste, um satt zu werden. Ausserhalb von Tokio ist das etwas weniger schlimm, und wenn man wirklich Hunger hat, haben viele indische Restaurants gratis zusätzliches Naan und Reis.
  • Japaner verstehen nicht, wieso ein Tourist indisch essen geht, wenn er in Japan ist. Besser man sagt es niemandem.
  • Japaner bekommen von ihren Eltern tatsächlich beigebracht, die Reisschale bis auf das letzte Korn zu leeren. Andere Speisen sind da weniger entscheidend. Ausländer geniessen aber Amnestie.
  • Japanische öffentliche Plätze haben gründsätzlich keine Mülleimer. Als Anti-Terror Massnahme (Saringas-Attacke 1995), und weil es funktioniert. Convenience Stores springen auch hierbei in die Bresche.
  • Japanische Toiletten haben fast alle eine Sitzheizung und ein eingebautes Bidet, manche öffnen und schliessen den Deckel automatisch. Scary.
  • Japaner haben eine Vielzahl von Lauten, um Verständnis, Erstaunen, Beipflichten, Interesse und vieles mehr ohne wirkliche Worte auszudrücken. Zweien Meistern dieser Kommunikation zuzuhören ist ein Vergnügen, die Rollen von Lautmaler und Wortführer werden ständig getauscht aber beide sprechen fast durchgehend. Wie ein Tanz, ein Duett.
  • Japaner tragen oft Gesichtsmasken. Gegen Krankheit, gegen Schadstoffe. Und ziemlich sicher gegen Schüchternheit.
  • Japaner haben sich inzwischen daran gewöhnt, dass Touristen ein paar Brocken Japanisch sprechen und mit Stäbchen essen können. Wer Reaktionen hervorrufen will, sollte möglichst viel Slang lernen. ちょお寒い (Choosamui)! Damn cold!

Samstag, 18. November 2017

Crystal Trees

Nach zwei Fähren und einem tollen selbstgebauten Holzhaushostel habe ich im Süden von Kyushu bald mal umgedreht, es hat aber noch gereicht für eine kleine Wanderung um einen Kratersee gegenüber vom aktiven und rauchenden Vulkan Mount Kirishima. Dieser ist 2011 letztmals ausgebrochen und es sind kilometerweit entfernt immer noch Spuren seiner Asche zu sehen. Danach ging es Richtung Onsen-Hauptstadt Beppu, mit der Vorfreude meine Japan-Adoptivfamilie dort wiederzufinden.

Onsen sind Bäder bei natürlichen heissen Quellen. Es gibt tausende hier, auf diesen auf vier tektonischen Platten balancierenden Inseln, fast immer findet man eines in der Nähe. Ihnen werden aufgrund ihrer Mineralhaltigkeit auch Heilkräfte zugeschrieben. Liest man vorgängig etwas zu Japan, klingen die Verhaltensregeln in Onsen recht kompliziert, bis hin zu einschüchternd. In Tat und Wahrheit sind sie einfach und schnell erklärt. Die einzige richtig wichtige Regel ist, dass die Quelle stets sauber zu halten ist. Wie fast überall in Japan lässt man die Schuhe im Eingang zurück. Entkleidet sich komplett, wäscht sich sehr gründlich bei den Stühlen/Duschen sitzend, lange Haare zusammenbinden, bevor man das heisse Wasser selbst betritt. Dort sollte man sich einigermassen würdevoll aufführen, also keine Plätteler vom Beckenrand. Wenn's zu heiss wird abkühlen, aufpassen beim schwindligen aufstehen. Ein paar mal wiederholen, am Ende wieder waschen. Leute mit Tattoos werden hin und wieder abgewiesen (war ursprünglich gegen die Yakuza gerichtet, die japanische Mafia - heute hat man den Eindruck, sie wissen den Grund selbst nicht so genau), aber mehrheitlich scheint das (zumindest für Ausländer) trotzdem zu gehen. Die meisten Onsen sind nach Geschlechtern getrennt.

Nach dem gefreuten Wiedersehen fanden wir heraus, dass wir uns schon wieder alle auf eine gemeinsame Richtung einigen und das endgültige Adieu noch etwas verschieben können, und nahmen die Fähre auf die Insel Shikoku, viertgrösste Japans nach Honshu, Hokkaido im Norden und Kyushu. Dort kamen wir in einem Love-Hotel unter, welche in Japan fast so häufig sind wie Onsen, und stundenweise gebucht werden können. Viele scheinen aber inzwischen den Touristenmarkt entdeckt zu haben, und inserieren auch auf den Hostel-Buchungsseiten. Sie können ein enorm gutes Preis-Leistungsverhältnis bieten, wenn man keine Probleme damit hat, an der Rezeption etwas verwirrt gemustert zu werden, andere Gäste verschämt vorbeihuschen zu sehen, im TV nicht jugendfreie Sender zu finden, und auf dem Bettstand einen Vibrator liegen zu haben. Falls ihr jetzt denkt, noch nie das davon gehört zu haben, seht euch mal euer Emoji-Set auf Whatsapp oder Facebook oder ähnlichem an...:).
Der Erfolg der Love-Hotels in Japan ist unter anderem in der beschränkten Privatsphäre traditioneller japanischer Häuser (Minka) begründet. Diese haben Zwischenwände und Schiebetüren aus Holz und Papier (Shoji), welche Licht und Feuchtigkeit, aber halt auch Kälte und Lärm durchlassen. Die Böden bestehen aus Tatami-Matten, welche aus Reisstroh gefertigt, in der Grösse genormt sind (1.62m2), und auch als Flächenmass verwendet werden (z.B. ein 6-Tatami-Raum). Tatami-Matten sind für mich beeindruckend, fühlen sich durch die dichte Flechtung zwar hart an aber sind dennoch elastisch. Man kann sogar direkt darauf liegen, aber für die Nacht wird dann doch ein Futon ausgerollt. Auch wenn sie Charme haben, abgesehen vom Tatami habe ich inzwischen so ziemlich genug von den traditionellen Häusern. Der aufziehende Winter macht sie oft frierend, die meisten Schiebetüren sind störrisch, und teilweise eingesetzte Glasfenster in den Türen sind ein einziger klirrender Konstruktionsfehler, der sich bei jedem draussen vorbeifahrenden Auto zitternd meldet.

Özlem, Aline und Clément gingen Richtung Tempel-Meditation, und ich erkundete mit JB noch weiter die Insel, die im Iya Valley inzwischen ebenfalls in herbstlichem Farbenfreudenfest leuchtete. Highlight davon war ganz klar die fast menschenleere Wanderung rauf auf Mount Miune (1893m), etwa 900 Höhenmeter meist durch inwischen grösstenteils entblätterten Wald, zuoberst ein tiefgefrorenes Wunderland aus Frost. In einer stupenden Umkehr des Gewohnten waren die Bäume und Sträucher weiss, der Boden aber noch nicht verschneit und in Farbe. Nur widerwillig, der sinkenden Sonne und der Kälte Tribut zollend, liessen wir diesen magischen Aussichtsort zurück. Absteigen mit voller Seele und Leonard Cohen in den Ohren, davonfahren im Sonnenuntergang.

Am nächsten Tag reichte es, um Aline und Özlem kurz vor ihrem Abflug von Osaka nach Thailand am Flughafen noch einmal zu überraschen - weil wir doch Abschiede so mögen ;). Aline und Clément hatten es besonders hart, waren nach einer verrückten Zeit in Japan noch enger verbunden.

Heute regnet es, morgen schneit es vielleicht sogar, und ich habe nur noch wenige Tage das Auto. Einen Flug nach Australien habe ich immer noch nicht, was mir die riesige Freiheit gegeben hat, diesen Besuch in Japan auszudehnen wie ich wollte. Ich hoffe Mount Fuji und in Tokyo noch einige Freunde zu sehen, danach freue ich mich aber auf die Wärme auf der Südhalbkugel. Nach ein paar organisatorisch intensiven Momenten hat Captain Dan an der Gold Coast inzwischen tatsächlich ein Auto für mich kaufen können, ich werde mit einem Mitsubishi Pajero unterwegs sein... Den letzten habe ich 2014 in der Nähe von Uluru abgefackelt, das muss ich aber nicht unbedingt wiederholen ;).

Mittwoch, 8. November 2017

Home of the Sun


Die alte Hauptstadt Kyoto gefiel mir in verregneten zwei Tagen vor allem durch ihren Bahnhof, der ein architektonisches Highlight ist.
An einem Morgen kurz nachdem ich wieder alleine unterwegs war, nutzte ich die damit verbundene kurze Entscheidungsfindung und verwarf den eigentlichen Plan Hiroshima, um nach Norden auf die andere Seite der Hauptinsel Honshu zu fahren, was sich als super Idee herausstellte. Denn dort traf ich auf die Präfektur Shimane, wo die Bevölkerungsdichte kleiner, das Leben langsamer, die Menschen noch einmal freundlicher, die Tempel und Schreine eindrücklicher, und das Meer auf der richtigen Seite ist. 

Letzeres, weil: Für mich spricht einiges dafür, den Sonnenuntergang gegenüber dem -aufgang zu bevorzugen. Extra früh aufstehen kollidiert tendenziell mit meinem Konzept von Ferien, auch hat man den ganzen Tag Zeit sich auf den Untergang zu freuen, und der fallende Nachtvorhang zum Schluss sorgt für mehr Dramatik. Besonders spektakulär und eindrücklich natürlich, wenn es in ganzer feuerwässriger Farbenpracht im Meer geschieht, was bekanntlich für den Untergang nur an der Westküste der Fall ist. Vielleicht sind mir daher Westküsten immer wieder am sympathischsten... Schottland, Irland, Australien, USA, und jetzt auch Japan. 

Eine einzige Freude jedenfalls, in Shimane zu sein. Für die Leute, die Himmel und Hölle in Bewegung setzen um zu helfen, für die Natur, die ständig neue Prachtstücke preisgibt, manchmal wütet, und jeden Abend von Neuem verzaubert.
Das Zwei-Gesichter-Thema wurde nur noch interessanter mit jedem neuen Menschen, mit dem ich es besprechen konnte. So faszinierend ist Japan inzwischen, dass ich von meiner Australien-Zeit hergebe um länger hier sein zu können, und das Mietauto etwa fünf Wochen behalten werde anstatt der angepeilten drei. Gerade bin ich auf der Insel Kyushu in der Nähe von Nagasaki, wo die Gedenkstätte für die Opfer der Atombombe ungemein bewegend ist. Ich werde wohl noch bis in den Süden von Kyushu fahren können, bevor ich den langen Rückweg nach Tokio unter die Reifen nehme, mit Umweg über die Insel Shikoku hoffentlich.

Nach etwa zwei Wochen rumreisen und anhand einiger überraschter Reaktionen wurde mir bewusst, dass ich noch keinen einzigen Ausländer im Auto sitzen gesehen habe. Es war mir schon klar, dass fast alle den Japan Railpass lösen (ein Angebot extra für Touristen), und ich habe ja auch einige der Nachteile eines Autos in Japan aufgeführt. Trotzdem überrascht mich das, und ich habe seither bei Hostelbesitzern nachgefragt, welche alle meinten, ich sei der einzige Ausländer mit Auto, der nicht in Japan wohne (und ausserdem verrückt). Das ist natürlich kein Problem für mich, so komme ich mir wie was Besonderes vor, und ohnehin ist das Mietauto garantiert der bessere Weg, Japan zu sehen :).

Auf die Gefahr hin zu langweilen, ein bisschen was zur japanischen Sprache. Weil, es beschäftigt mich! Sie ist in gewisser Weise genau umgekehrt zum Koreanischen, was die Schwierigkeiten angeht: Es ist einfach ausgesprochene Wörter zu verstehen, und furchtbar schwer, sie zu schreiben oder zu lesen. Ersteres liegt an der Armut an Lauten (Phoneme inklusive Diphthonge), sie hat gerade mal 24, gegenüber 48 im Deutschen, und 49 im Englischen. Letzteres liegt daran, dass die Japaner einen Flick furt haben und drei Skripte verwenden um die paar Laute zu schreiben. Ihre zwei ursprünglichen (Hiragana/Katakana, je 46, vergleichbar mit unseren Klein-/Grossbuchstaben, ein Zeichen steht fast immer für Konsonant+Vokal), und dann als kleine Zugabe über 2000 importierte chinesische Schriftzeichen (Kanji, Wörter). Am Rande, viele Japaner benutzen zudem eine Tastatur mit lateinischem Alphabet.
Ich habe einige Rechtfertigungen gelesen und gehört, wieso die Kanji nötig seien, nichts davon überzeugend. Ich glaube sie mögen sie einfach. Es geht aber noch weiter... Fast alle dieser Kanji haben, anders als im Chinesischen, mehrere Aussprachemöglichkeiten und Bedeutungen! Kleines Beispiel, ein Ort der "Grosser Berg" heisst: . Nun kann gross () O, Tai oder Dai ausgesprochen werden,  und Berg () Yama, Sen, oder San. Die meisten Japaner sagen dem Ort, wenn sie ihn zum ersten Mal sehen, Oyama. Heissen tut er tatsächlich Daisen, ist ja fast das Gleiche, und herausfinden kann der Besucher das bloss, indem er einen Ortsansässigen fragt oder ein englisches Schild findet. Stattdessen könnte das ganze in Hiragana geschrieben werden: , kaum länger und eindeutig. Reiner Wahnsinn. Muss ich lernen.